Ziele, Programm und Struktur des Graduiertenkollegs
Zusammenfassung
Hauptargumente für die heute oft beschworene Zusammengehörigkeit des 'europäischen Kulturraums' sind in der Regel Bindungen und Strukturen, die im Mittelalter ihre erste und entscheidende Prägung erhalten haben. Doch die mittelalterliche Einheit ist problematisch. Sie verdankt sich einem komplexen Mit- und Gegeneinanderwirken verschiedenster Faktoren, die lange Zeit nebeneinander bestanden, aber nicht auseinander ableitbar waren. Viele Leistungen des Mittelalters sind aus einer intern regional- oder nationalkulturellen Entwicklung nicht erklärlich, sondern verdanken sich Transferprozessen. Die Kategorie des 'Transfers' gewinnt hier eine zentrale Bedeutung. Sie ist von der mediävistischen Forschung bisher noch zu wenig beachtet worden und ist ein aktuelles Forschungsproblem besonders der ‘Humanwissenschaften’, die das Graduiertenkolleg tragen: der Mittelalterphilologien, der Geschichts- der Musik- und Kunstwissenschaft, der Philosophie- und der Medizingeschichte.
Der Aspekt des Kulturtransfers eröffnet die Chance, quer zur üblichen Vorstellung nationalkultureller ‘Entwicklung’ die nichtlinearen Prozeßkomponenten, also Begegnungen und Konkurrenzen, wechselseitige Attraktionen und Abstoßungen systematisch zu beobachten und ihre Wirkungsweise zu bestimmen. Gerade auch die in den Transferprozessen freigesetzten produktiven Innovationen, seien es gewollte oder aus der Not geborene, aus Ablehnung, Bewunderung oder aus schlichtem Mißverständnis hervorgegangene, rücken hierbei in den Vordergrund.
Im Rahmen des Studienprogramms wurden interdisziplinäre Lehrformen
erarbeitet und erprobt, aus denen sich mittlerweile der Studienschwerpunkt
'Europäisches Mittelalter' (analog den 'Medieval studies' ausländischer
Universitäten) entwickelt hat. Das Kolleg trägt damit dazu bei,
die humanwissenschaftlichen Studiengänge stärker auf ihren europäischen
Horizont auszurichten.
Forschungsprogramm des Kollegs
Grundlagen
Die Entfaltungsperiode der europäischen Nationalkulturen ist nicht der Erstzustand, in dem Transfer beobachtet werden kann. Die vorausgehenden, ‘vornationalen’ Perioden des Mittelalters sind für das Studium von Kulturtransfer zumindest ebenso reichhaltig und ebenso wichtig. Den mittelalterlichen Vermittlungs- und Austauschprozessen (im Zeitrahmen ca. des 9. bis 16./17. Jahrhunderts) gilt das Erkenntninteresse des Graduiertenkollegs. Anders als in der Neuzeit vollziehen sich Transferprozesse zu jener Zeit nicht vornehmlich in nationalen Polaritäten. Ihnen ist - bei aller Heterogenität der einzelnen Komponenten - von vornherein eine 'europäische Dimension' eigen. Der Kulturtransfer ist ein Schlüssel zum Verständnis dessen, was die mittelalterliche Kultur als 'Gesamtheit' konstituiert. So sieht Rémi Brague die ‚europäische Identität‘ wesentlich in ihrem ‚Römertum‘ begründet, das er näherhin bestimmt als eine ‚Haltung der Aneignung, der Überlieferung und der Weitergabe.‘ Dem nachzugehen lohnt umso mehr, als sich die Hauptverbindungen der europäischen Kultur- und Verkehrsräume in der Selbstverständlichkeit, mit der wir sie zu denken gewohnt sind, erst im Mittelalter etabliert haben; sowohl die Renovierung von Teilstrukturen des antiken Imperium Romanum in Süd-, Mittel- und Westeuropa als auch die Erweiterung auf Nord- und Osteuropa. Der geographische Horizont der Länder, die jetzt Mitglied in der 'Europäischen Union’ sind oder werden wollen, hat seine Prägung erst und erstmals im Mittelalter erhalten. In mancher Hinsicht ist das Mittelalter, pointiert gesagt, die Antike der Europäischen Union.
Im europäischen Mittelalter befinden sich die unterschiedenen Kulturregionen in einem gemeinsamen vornationalen Aggregatzustand, der die wesentlichen Formen der Bildung, der Religionsausübung, der Kunst und des Austausches von Wissen und Können nachhaltig prägt. Auch wo frühe Ansätze von regionalem oder nationalem Identitätsbewußtsein entstehen, werden diese transnational eingebunden und artikuliert, etwa in der Struktur der Bettelorden und der Universitäten. Es gibt nur einige wenige verbindliche Grundlagen für eine gemeinsame Weltdeutung: Bibel, Patristik, klassische lateinische Antike. Aber selbst sie können sich, indem sie als Gemeingut eingeführt werden, in die jeweiligen Gebrauchsräume fügen und dabei verändern. Leitdeutungen bilden sich darüberhinaus jeweils sprachgebunden und schriftgestützt. So entstehen spezifische Sprachkonventionen: im Latein der Bibel und der Gelehrten, in gemeinsamen Formeln der Bild- und Tonsprache. Wie neue Ideen, Deutungen und Weltentwürfe einerseits an solche Konventionen anknüpfen, wie sie anderseits, weil sie neu sind, die Konventionen des Aussagens, Darstellens und Zeigens auch verlassen, überschreiten und neue Formen schaffen, die möglicherweise zunächst abgelehnt werden, aber selbst ausstrahlen und vorbildlich werden können, ist Gegenstand des Kollegs.
Die bisher erzielten Forschungsergebnisse der am Graduiertenkolleg beteiligten Disziplinen bestätigen die Vermutung, daß sich solche Prozesse der Etablierung neuer Muster nur ausnahmsweise linear vollziehen - selbst ein Mißverständnis oder eine bewußt errichtete Verständnisschranke können innovativ wirken. Die Effekte einer unzulänglichen Verständigung müssen im Zusammenhang von Mündlichkeit und Schriftlichkeit diskutiert werden, denn in der Dichtung und in der Musik, in den verschiedenen Künsten und Wissenschaften konkurriert der schriftgebundene Transfer mit nichtschriftlichen Methoden und Systemen. Wie der (unter Umständen mehrmalige) Medienwechsel beim Transfer das übertragene Gut verändert, welche Umdeutungen und Funktionswechsel er hervorgerufen oder befördert hat, ist gerade für die Beschreibung ‚produktiver Mißverständnisse‘ mitzubedenken.
'Kulturtransfer im europäischen Mittelalter' zeigt ein Forschungsprogramm an, das sich sowohl von der Rezeptions- als auch von der Einflußforschung unterscheidet. Die Rezeptionsforschung unterstellt die Vorbildlichkeit ihres Gegenstandes für einen aufnehmenden (soziologisch, regional oder historisch gefaßten) Gebrauchsraum; die Einflußforschung geht von einer faßbaren und abgegrenzten kulturellen Identität sowohl des Gebenden als auch des Nehmenden aus. Dagegen betont das Programm 'Kulturtransfer' die Verlaufsformen und Bedingungen von Kulturimporten und -exporten, das heißt den Prozeß des Transfers selbst. Dabei liegt besonderes Gewicht auf den Veränderungen und Verwerfungen, denen das Übertragene jeweils unterliegt. Beispielsweise mußte Musik, um angemessen und nachhaltig transferiert werden zu können, 'rationalisiert', das heißt auf allgemein verbindliche Standards gebracht werden, so daß neben die aufwendige und nicht immer erfolgreiche Praxis persönlich-mündlicher Überlieferung schriftliche Fixierung trat.
Kulturtransfer kann im weitesten Sinne sowohl räumlich (z.B. von Ost nach West) als auch zeitlich (z.B. von der Antike ins Mittelalter) als auch sozial (z.B. von einer Experten- zu einer Laienkultur) verstanden werden. Diese Verständnisweisen sind jedoch nicht völlig gleichrangig. Wenn zeitliche oder soziale Verschiebungen von Kulturtechniken ohne räumlichen Aspekt bleiben, fallen sie unter andere Begriffe (Rezeption, Tradition usw.). Für den Kulturtransfer ist der räumliche Aspekt übergeordnet; soziale und zeitliche Verschiebungen ordnen sich der Bewegung im Raum notwendig zu, denn kein Kulturgut vermag ohne Träger in eine andere Region zu gelangen, und die Bewegung selbst erfordert Zeit.
In diesem Sinne wird ‘Transfer’ in erster Linie räumlich-regional verstanden und untersucht das Kolleg die Verfestigung und Verschiebung oder Umbildung von Kulturräumen vor allem im mittelalterlichen West- und Mitteleuropa untersuchen. Im antiken Imperium Romanum hatte eine von den Römern als Kulturgefälle empfundene Differenz zwischen den cisalpinen und den transalpinen Provinzen bestanden. Zweifellos wirkten neben den natürlichen Grenzen auch ethnische, sprachliche und andere Unterschiede transferhindernd oder transferfördernd.
Die Frage, welche Übertragungen und Umbildungen zu einem als ‘gemeineuropäisch’ zu bezeichnenden Verständnis der Welt und des Menschen geführt haben, ab wann ein solches Verständnis eigentlich angesetzt werden könnte, ob die kulturellen ‘Ausgleichsbewegungen’ nicht überhaupt widersprüchlich geblieben sind und immer wieder neue Ungleichgewichte hervorbrachten, wird im Rahmen des Kollegs verfolgt.
Ein prominenter Problembereich ist der Transfer zwischen Orient und Okzident. Zwar scheint das Verhältnis zum Orient in der okzidentalen Musikkultur kaum eine Rolle gespielt zu haben, doch ist es auf anderen Feldern, besonders der Anthropologie und der Medizin, fundamental. Das ‘Wir’ der als Einheit begriffenen ‘europäischen Christenheit’ wurde, nach der jüngst von Bartlett ausgearbeiteten These, erst und zuerst in der Konfrontation mit einem gemeinsamen Gegner, dem expandierenden Islam, plausibel und notwendig. Ob und wieweit die Makrostruktur des mittelalterlichen Ost-West-Konflikts auf die Kulturtransferprozesse auch der binneneuropäischen Mikrostrukturen eingewirkt hat, ist eine immer wieder zu stellende Frage.
Die Diskussion des Transfer-Themas führte auf den folgenden gemeinsamen Problemkatalog aller Arbeitsbereiche:
1. Träger des Kulturtransfers,
2. Relation von Geber und Nehmer,
3. Anlässe und äußere Bedingungen,
4. Richtungen und Wege,
5. Mittel und Medien,
6. beabsichtigten Zwecke, beabsichtigte Funktionen,
7. erreichte Zwecke, erreichte Funktionen,
8. Position im alten und im neuen Bezugssystem.
Arbeitsbereiche
Arbeitsbereich A
‚Transfer und Transformation der Orient-Vorstellungen im mittelalterlichen Weltbild‘
A. Allgemeines
In der mittelalterlichen Theorie von der Gestalt der Erde ist die Verschiedenheit von Orient und Okzident konstitutiv. Der Orient galt als die privilegierte Weltgegend, von Ost nach West schien sowohl ein Kultur- als auch ein Naturgefälle immer schon gegeben: Im Osten hatte die Weltgeschichte begonnen und wanderte westwärts; der Osten besaß natürliche Reichtümer, von denen der Westen nur träumen, freilich auch Gefahren, vor denen er sich nur fürchten konnte. Die Lehre von der Gestalt der Erde lag seit der christlichen Spätantike fest und war in der Schulliteratur des Mittelalters verankert. Mit der Ausbreitung des Islam im 7./8. Jh. hatte der Orient indessen ein zusätzliches, von den Schulschriftstellern noch nicht registriertes Grenzprofil erhalten, das die universalgeographische Theorie und Praxis ständig in Unruhe hielt.
Auf den Orient projizierte man die eigenen, westlichen
Wunsch- und Schreckbilder, so daß die Transformation des Orientbildes
vom ‘Land der Wunder’ zur geographisch vermessenen Erdzone anscheinend
alles andere als ein linearer Prozeß war und der Transfer von Orientalia
immer einen besonderen Charakter behielt.
Arbeitsbereich B
Der Transfer anthropologischer Theorien zwischen Orient und Okzident
B. Allgemeines
Das Bild, das die Philosophiegeschichtsschreibung bisher von der mittelalterlichen Philosophie gezeichnet hat, hat sich in den letzten Jahren gewandelt: Weg von der Darstellung als eines wohlgeordneten und sich mehr oder minder linear entwickelnden Phänomens hin zu einer Beschreibung als eines komplexen und vielschichtigen Gebildes unterschiedlichster geistiger Strukturen, die sich in mannigfaltiger Weise überschneiden; dabei wird der Anteil des lateinischen Christentums als ein Element unter andern gewertet. Étienne Gilson hatte die mittelalterliche Philosophie noch als im großen und ganzen einheitliches, in seinem Wesen christliches Phänomen verstanden. Demgegenüber wird in der aktuellen Darstellung der mittelalterlichen Philosophie von Alain De Libéra deutlich, daß die philosophischen Bemühungen dieser Zeit nicht unter einen einzigen Begriff zu bringen sind - entsprechend nimmt die Entwicklung im Westen nurmehr knapp die Hälfte des Platzes ein. Es scheint geboten, den Blick zu schärfen für ein Nach- und Nebeneinander sowie die Vermischung vielfältiger philosophischer Strömungen und Traditionen, die keinesfalls allein dem Kulturraum des christlichen Westens entstammen.
Die verschiedenen Traditionsströme und die diversen Versuche ihrer Verbindung treffen in den Übersetzungen und Kommentierungen der Werke des Aristoteles zu Ende des zwölften und im Verlauf des dreizehnten Jahrhunderts wie in einem Brennpunkt aufeinander; deren intellektuelle Brisanz läßt sich an der berüchtigten Verurteilung verschiedener theologischer und philosophischer Thesen durch den Pariser Bischof Étienne Tempier im Jahr 1277 ablesen. Besonders interessant sind in diesem Zusammenhang Schriften über die Seele, ob als unabhängige Werke oder als Kommentare zu Aristoteles, die entstehen, seit - in der Vermittlung durch Übersetzerpersönlichkeiten wie Gerhard von Cremona, Roberte Grosseteste oder Michael Scotus - über das Organon hinausgehendes und sich darauf berufendes arabisches Lehrgut ins christliche Abendland vordringt.
In diesen Traktaten werden in vielfältigster Weise die Ansichten und Argumente von Philosophen der klassischen Antike, der Spätantike, der Patristik und frühen christlichen Schulphilosophie sowie der jüdischen und vor allem islamischen Philosophie analysiert und synthetisiert; die Bandbreite der intellektuellen Leistungen reicht dabei von der einfachen Paraphrase älterer Texte bis zum völlig neuartigen systematischen Aufriß des Themas.
Das Transfergeschehen im Bereich philosophischer Theorien und dabei insbesondere in der Anthropologie ist vielschichtig und durch wechselseitige Beeinflussungen und Überlagerungen unterschiedlichster Traditionsströme gekennzeichnet; neu entstehende philosophische Synthesen stellen sich dar als Gewebe diverser, von verschiedenen Seiten übernommener Lehrstücke, wobei Provenienz und Grad der Umgestaltung und Überformung nur selten ersichtlich sind.
Die geistesgeschichtliche Bedeutung der Entwicklung und Umformung des
wissenschaftlichen Bildes vom Menschen geht über den Rahmen 'rein'
philosophischen Interesses weit hinaus: Neben den naheliegenden Verbindungen
zur medizinischen Theorie etwa gewinnt im lateinischen Mittelalter die
Lehre von den Affekten im Rahmen der theoretischen Beschäftigung mit
Musik wieder an Bedeutung. Im Bereich der Theologie und der religiösen
Praxis beeinflussen anthropologische Theorien das Verständnis von
mystischem Erleben und prophetischem Geschehen in nicht unerheblichem Maße.
Nicht zuletzt werden in der Wissenschaft neue Blickwinkel auf den Menschen
alsbald umgesetzt in populäre Formen der Darstellung in lateinischer
wie volkssprachiger Erzählliteratur. So ist etwas die im ersten Antragszeitraum
des Kollegs entstehende Dissertation von Juliane Rieche mit der ‚Popularisierung‘
anthropologischen/medizinischen Wissens befaßt.
Arbeitsbereich C
Transfer und Transformation von Texten und literarischen Mustern im volkssprachigen und lateinischen Mittelalter
C. Allgemeines
Texte fungieren innerhalb des Transfer-Prozesses gleichermaßen
als Gegenstände wie als Medien des Transfers – um diesem Doppelaspekt
gerecht werden zu können, wird in diesem Arbeitsbereich nicht nur
der Transfer, konkret also die Überlieferung von Texten über
geographische, sprachliche und soziale Grenzen hinweg untersucht, sondern
auch die Transformationen, die die Inhalte der Texte jeweils durch den
Transfer erfahren. Um diesen Prozeß in den Blick nehmen zu können,
muß eine weitere Untersuchungsebene geschaffen werden, die wir mit
dem Begriff des ‚literarischen Musters‘ bezeichnen; das literarisches Muster
wird hier als das konstitutive Strukturmerkmal eines Stoffes aufgefaßt.
Es kann sich dabei um Topoi, Erzählzusammenhänge oder –absichten
handeln. Durch die Analyse des literarischen Musters und der Transformation,
die es im Transfer-Geschehen durchläuft, kann die Ebene der Überlieferung
und ihrer geographischen Wege um die konkrete Gestalt des Transfergegenstandes
ergänzt werden; nur aus der Neuformulierung und Anpassung des ‚Neuen‘
durch den Empfänger kann erschlossen werden, welches Bedürfnis
der Transfer befriedigt und aus welchen Motiven heraus er vollzogen wurde
– man könnte diesen Prozeß ‚Rekontextualisierung‘ nennen.
Arbeitsbereich D
Transfer und Transformation von Kunst und materieller Kultur
D. Allgemeines
Stehen in den meisten der restlichen Arbeitsbereiche Transfer und Transformation von Texten, Theorien, Handlungs- und Wahrnehmungsstrukturen oder institutionellen Ordnungsmustern im Vordergrund, so werden in diesem Forschungsschwerpunkt die materiellen Gestalt des Transferierten so wie der relevanten Trägermedien des Transfers untersucht. Wo zum Beispiel im Transfer musikalischer Formen in verschriftlichter Gestalt eine unmittelbare Beeinflussung des transferierten Gehaltes durch die Konvention einer Notation sichtbar wird (vgl. hierzu auch den Arbeitsbereich E), ist ein Zusammenhang solcher Art im Tranfer anderer Gegenstände nicht auf den ersten Blick ersichtlich.
Die These, daß nicht nur bestimmte Texttypen der ihnen adäquaten Medien bedürfen, sondern sich auch umgekehrt die Form bsw. eines Buches nachhaltig auf die Form der darin vermittelten Texte auswirkt, ist noch vergleichsweise neu; eingehendere Untersuchungen auf quantitativ hinreichender Basis stehen erst in den Anfängen. Gerade für die Kodikologie ist hier noch ein weites Feld zu bestellen.
Die für die Abhängigkeiten und Bezüge zwischen Texten
und ihrer schriftlichen Fixierung in der Forschung erst nachhaltig aufzuzeigenden
Zusammenhänge sind im Bereich der bildenden Kunst konstitutiv: Mag
ein Text in verschiedenen virtuellen oder real verschriftlichten Gestalten
existieren, so konstituiert sich bildende Kunst erst in ihrer materialen
Gestalt.
Arbeitsbereich E
Regionale Differenzierung und interregionaler Transfer in der Musikkultur des europäischen Mittelalters
E. Allgemeines
Die europäische Musikkultur ist durch eine Transferleistung unerhörten Ausmaßes begründet worden: Die Einführung des römischen liturgischen Gesangs (der 'cantilena romana', des sogenannten 'Gregorianischen Gesangs') in das Frankenreich während der Karolingerzeit und dessen normative Verbreitung über ganz Europa mit der Folge neuer Zentrierungen und Orientierungen. Seitdem ist das musikalische 'cultural system' Europas geprägt durch die Idee und das Ideal einer überregionalen Einheit, zugleich aber auch durch die Erfahrung und das Bewußtsein regionaler Unterschiede.
Dabei ist der interregionale Kulturtransfer nicht lediglich als Ausgleich regionaler Differenzen zu verstehen, nicht nur als eine verteilende 'Ausgleichsbewegung' bei einem bestehenden 'Kulturgefälle' zwischen 'überlegenen' (oder als überlegen betrachteten) und 'unterlegenen' (oder sich als unterlegen wahrnehmenden) Regionalkulturen. Denn der Transfer kann auch die Ursache neuer 'Kulturgefälle' und dadurch Auslöser neuer Transferbewegungen sein. So kann es zur Umkehrung des Verhältnisses zwischen gebender und nehmender Region kommen sowie zur Umkehrung der Richtungen und zur Verlagerung der Routen des Transfers, etwa wenn dieser in seiner Zielregion Innovationen (als produktive Rezeption des Transferierten) zur Folge hat, die auch für die Ausgangsregion attraktiv sind. Beispiele dafür sind die Entstehung neuer Formen liturgischer Musik und Poesie im Frankenreich aus einer produktiven Auseinandersetzung mit dem Gregorianischen Gesang, den man als römisches Transfergut wahrgenommen hat, aber auch die systematische Verschriftlichung des Gregorianischen Gesangs im Frankenreich; diese ist interpretierbar als Maßnahme zur (pragmatisch motivierten) Stabilisierung und Kontrolle eines erzielten Transferergebnisses, aber auch als Maßnahme zur (ideologisch motivierten) visuellen Manifestation eines beanspruchten, offenbar prestigeträchtigen, Transfererfolgs. Beide Innovationen wurden alsbald Gegenstand eines Transfers in umgekehrter Richtung.
Die mittelalterlichen Bemühungen um den interregionalen Transfer von Musik beschränkten sich indessen nicht auf deren räumliche Bewegung zwischen den Regionen, sondern führten vielfach zu einer Transformation der Musik. So wurde Musik in den - transferbedingten oder transferbegleitenden - Prozessen der Rationalisierung, Vermittlung und Aneignung ständig umgedeutet, auch mißverstanden, und verändert.
Untersucht wurde innerhalb dieses primär auf musikgeschichtliche, zugleich aber auf literaturgeschichtliche und kirchengeschichtliche Befunde bezogenen Arbeitsbereiches der Transfer von Musikbeständen, Musikidiomen, Musikpraktiken und Musikauffassungen sowie von Medien und Modi der Musiktradierung zwischen den Gegenden Europas, in denen Latein die Sprache des Kultus und seiner Gesänge sowie des musikbezogenen Schrifttums war, und in denen Rom als die verbindliche Kultinstanz und Roms liturgische Musikpraxis als ideales Vorbild galten. Dabei waren nicht nur konkrete Transfervorgänge ihrem räumlichen und zeitlichen Verlauf nach zu rekonstruieren oder konkrete Überlieferungsbefunde mit Hilfe von Transferszenarien zu erklären, sondern auch die spezifischen Voraussetzungen, Motive, Resultate und Konsequenzen des jeweils untersuchten Transfergeschehens.
Wichtig war in diesem Zusammenhang auch die Frage nach den pragmatischen wie ideologischen Gründen und Begründungen des Transfers und den materiell-technischen wie methodischen Grundlagen der Transferierbarkeit von Musik oder das Ausbleiben von Transfer.
Der Arbeitsbereich "Regionale Differenzierung und interregionaler Transfer in der Musikkultur des europäischen Mittelalters" konzentriert sich innerhalb des geplanten Kollegs auf den 'innerokzidentalen' Kulturtransfer und thematisiert dabei besonders nachdrücklich die Mechanismen des Transfervorgangs als solchen. Dies wird dadurch gerechtfertigt, daß der europäische Binnentransfer in überschaubaren Zeitspannen verlief, und dadurch, daß die Quellenlage für die Ausgangsregion und die Zielregion eines Transfervorganges meist vergleichbar beschaffen ist.
Die Frage nach einem die Grenzen des Okzidents überschreitenden Transfergeschehen oder nach den Gründen seines Ausbleibens, Transfer etwa aus dem oder nach dem byzantinischen, arabisch-muslimischen oder jüdischen Bereich, stellt sich hinsichtlich der mittelalterlichen Musik vorab als Frage nach dem Vorkommen, der Erwartbarkeit und Möglichkeit eines solchen Transfers von Musik zwischen nur bedingt 'kompatiblen' Systemen musikalischer Kultur und als Frage nach der Nachweisbarkeit eines solchen Transfers und seiner Thematisierbarkeit unter Aspekten von Transferforschung. (Als lediglich bedingt 'kompatibel' sind okzidentale und nicht-okzidentale Musikkulturen schon deshalb zu betrachten, weil kein gemeinsamer Begriff von Musik vorauszusetzen ist; auch sind die Bedingungen eines Transfers aus genuin mündlichen Musikkulturen, in eine Musikkultur, die sich ihrer liturgischen Musikpraxis in zunehmendem Maße in schriftlicher Form versichert, prinzipiell ungeklärt).
Diese Fragen sollen und dürfen wenigstens als Fragen nicht völlig
ausgeklammert bleiben; auch soll und darf nicht übersehen werden,
daß die Musik der arabisch-muslimischen und der jüdischen Kultur
im Mittelalter nicht nur als Musik außer-okzidentaler Kulturregionen,
sondern auch als Musik arabisch-muslimischer und jüdischer Europäer
gegenwärtig war, und daher mit Einflüssen und Austausch nicht
nur in Gestalt eines räumlichen, sondern auch eines sozialen Transfers
zu rechnen ist. Daß diese Problematik im Lehrprogramm des Kollegs
präsent gehalten wird, garantiert der (bereits etablierte) Kontakt
mit einem auswärtigen Experten (Max Haas).
Arbeitsbereich F
‚Religiöse Literatur des Islam im lateinischen Gewand und ihre Wirkung‘
F. Allgemeines
Wenn von "Kulturtransfer im europäischen Mittelalter" die Rede ist, muß ganz wesentlich vom Orient die Rede sein, d.h. der islamisch dominierten, sich hauptsächlich in arabischer Sprache artikulierenden Welt, die sich von Mittelasien, der Heimat von Avicenna (Ibn Sînâ, 980-1037) bis nach Spanien, der Heimat von Averroes (Ibn Ruschd, 1126-98), erstreckte. Die für die europäische Mediävistik bislang relevanten Forschungsthemen betrafen in erster Linie den Transfer antiker Philosophie, Medizin und anderer Naturwissenschaften über eine arabische (eventuell auch davorliegende syrische oder hebräische) Zwischenstation ins Abendland, ihre Überlieferer und Überlieferungswege, ihre Übersetzer und Übersetzerschulen, die Art und Qualität der Übersetzungen, sowie die Bedeutung dieser Übersetzungen für die Entwicklung der entsprechenden Disziplinen im mittelalterlichen Europa. Die Fülle der vorhandenen Literatur zu den angedeuteten Themen darf nicht darüber hinwegtäuschen, daß die äußerst komplexen Transfervorgänge noch längst nicht von allen Seiten ausgeleuchtet sind, daß vor allem so konkrete Fragestellungen, wie sie im Rahmen dieses Antrages von philosophischer (siehe Arbeitsbereich 2) und medizinhistorischer Seite formuliert sind (siehe Arbeitsbereich 4), bislang nur selten genauer behandelt wurden. Sie in philologischer Hinsicht umfassend zu unterstützen, ist ein wesentlicher Aspekt der Partizipation der orientalischen Philologie am Graduiertenkolleg.
"Kulturtransfer" zwischen orientalischer und abendländischer Welt beschränkte sich nun jedoch keineswegs nur auf die angesprochenen Bereiche; denn nicht wenige europäische Gelehrte des 12. und 13. Jh.s (z.B. Robert v. Ketton, Hermann v. Carinthia, Marcus v. Toledo) haben neben medizinischen, mathematischen oder philosophischen Texten auch religiöse Texte übersetzt, darunter so bedeutsame wie den Koran oder wichtige Texte des almohadischen Ideologen Ibn Tûmart (gest. ca. 1130). Das Ziel dieser Übersetzungen zentraler islamischer Texte war jedoch anders definiert als das der (aus islamischer Sicht) eher peripheren säkularen Texte. Hier ging es nämlich darum, den Kern der gegnerischen religiösen Lehre zunächst kennenzulernen, um ihn dann, in einem zweiten Schritt, im Rahmen der Kontroverstheologie widerlegen zu können. "Transfer" war hier im Grunde primär negativ bestimmt, konnte aber gleichwohl von positivem Einfluß sein, wie sich an einigen Rezeptionsvorgängen zeigen läßt.
In den Bereich der Transferforschung gehört auch die Frage, inwieweit
zentrale kontroverstheologische Themen des Islam, die durch die zu untersuchende
Übersetzungsliteratur im Abendland bekannt wurden, Fragestellungen
der scholastischen Theologie beeinflußt haben, z.B. das Thema der
Prophetologie oder das der Beweiskraft der Heiligen Schrift der Christen
gegenüber islamischen Einwänden auf der Basis der sogenannten
Verfälschungstheorie (arabisch tahrîf).
Arbeitsbereich G
Arabisierung und Entarabisierung der mittelalterlichen Medizin
G. Allgemeines
Während im arabisch-islamischen Bereich seit dem 9. Jahrhundert die Aneignung der griechisch-römischen Medizin ihren Höhepunkt erreicht hatte und sich in der Folgezeit auf dieser Basis die arabische Medizin mit reicher Literatur, Schulen und Krankenhäusern entwickelte, kannte Westeuropa in dieser Zeit nur sehr bescheidene und in vielerlei Hinsicht verfälschte Reste der antiken Medizin, daneben kursierten Einzelstücke medizinischer Gebrauchsliteratur. Die frühesten Zeugnisse für eine systematische Beschäftigung mit der Medizin im mittelalterlichen Westeuropa lassen sich für Salerno im 10. Jahrhundert belegen. Die hier entstandenen Texte dienten der ärztlichen Praxis, es waren überwiegend Kompilationen aus galenischen oder pseudogalenischen Schriften. Seine Blütezeit erreichte Salerno im späten 11. und frühen 12. Jahrhundert; Voraussetzung hierfür war die Übersetzertätigkeit des Constantinus Africanus (um 1020-1087), der seit etwa 1075 bis zu seinem Tode medizinische Texte aus dem Arabischen ins Lateinische übersetzte und damit zum ersten großen Interpreten der Medizin des Islam für das Abendland wurde. Eine vergleichbare Rolle spielte dann etwa hundert Jahre später Gerhard von Cremona in der Übersetzerschule von Toledo. Die von Constantinus und Gerhard übersetzten Texte wurden zur Grundlage des Unterrichts in der Medizin an den europäischen Universitäten des Mittelalters. Diese rasche Übernahme in den Lehrkanon hatte nicht nur zur Folge, daß die Medizin für etliche Jahrhunderte primär zur Buchwissenschaft wurde, sondern sie verhinderte auch eine größere Breitenwirkung der lateinischen Übersetzungen, die seit dem 12. Jahrhundert in verschiedenen Zentren Italiens direkt von den griechischen Originalen vorgenommen wurden. Zusammen mit den graeco-arabischen Texten gelangten seit dem 11./12. Jahrhundert auch medizinische Bücher aus dem Orient nach Italien, die als Originalprodukte arabischer Autoren zu gelten haben. Auch sie wurden zu wesentlichen Bestandteilen der westlichen Medizin.
Die mittelalterliche Medizin war über mehrere Jahrhunderte wesentlich
durch den Kulturtransfer von persischem und arabischem Gut in den lateinischen
Westen bestimmt worden. Die Ost-West-Richtung gibt dabei eher die kulturelle
Himmelsrichtung an als die geographische, denn innerhalb Europas wanderte
das Übernommene im wesentlichen von Süd nach Nord. Nachdem die
Orientalisierung die Medizin des Mittelalters umfassend geprägt hatte,
wurde der Prozeß im Zuge des Humanismus, das heißt durch Rückgriff
auf die originalen griechischen Quellen, wieder rückgängig gemacht.
Für viele Vertreter der Medizin, die bis dahin auf Quellen angewiesen
waren, die auf ihrem Umweg über das Syrische oder Arabische vielfache
Veränderungen und Entstellungen erfahren hatten, bedeutete die Konfrontation
mit den echten Texten von Hippokrates und Galen eine Art von Offenbarung.
Die griechische Herkunft galt diesem Zeitalter per se als Qualitätsausweis,
unabhängig von Inhalten oder praktischer Anwendbarkeit. Mehrere Generationen
von humanistisch geschulten Ärzten widmeten sich deshalb jetzt der
Arbeit an den neu entdeckten Texten, das heißt der Übersetzung
ins Lateinische, der Kommentierung und der Edition. Parallel ging damit
eine überaus heftige Kritik an den Arabern einher. Mit der Reinigung
der Texte von arabischen Spuren wurde so der im 11./12. Jahrhundert erfolgte
Kulturtransfer wieder rückgängig gemacht.